Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Die Taube mit dem goldenen Stühlchen



wischen dem Thüringer Wald und dem Harzgebirge lehnte an einem Hügelhang der Hof eines gottesfürchtigen Bauern. Als nun wieder einmal das runde Jahr in die zwölf Nächte mündete, schlich sich der Jungbauer, so wie er dies von seinem verstorbenen Vater gesehen hatte, heimlich hinaus auf den Acker und machte die Runde durch seinen Garten. Er schüttelte den Apfelbaum, er rüttelte den Birnbaum und sprach dazu den alten Spruch, den sein Ahne schon sprach:

"Bäumchen, wach auf,
Frau  Holle kommt!"

Da vernahm er ein Rauschen im Gezweig, und ein Schauer rieselte herab durch den ganzen Baum, vom Wipfel bis zur Wurzel. Und es wehte im Winde heran wie  Flügelschlag, und Frau Holle erschien im Federkleid einer weißen Taube. Sie schwebte über die verschlossenen Knospen der Krone,
kreiste dann um den ganzen alten Garten und breitete ihre singenden Schwingen weit über das wellige Ackerland aus. Und wo sie flog, da  senkte sich ein Segen nieder auf das Gefild, sank in die schlummernden Wurzeln und Knollen unter den schneebedeckten Schollen, auf daß sie wieder fruchtbar würden und Keime lockten im kommenden Jahr.
Die Taube mit dem goldenen Stühlchen
Federzeichnung: Gisela Heller, 1955

Deutsches Märchen- und Wesersagenmuseum

mit freundlicher Genehmigung von Dr. Hanna Dose
Kulturhistorikerin und Leiterin des Museums


Der Bauer gewahrte auch ein goldenes Stühlchen an ihrem Fuß. Darauf setzte die Taube sich nieder, wenn sie die weite Reise ermüdet hatte. Und wo sie Rast hielt, da sind dann im nächsten Frühjahr die schönsten Blumen und Stauden gewachsen, als wäre dort ein umhegter Garten.

So wußte denn jener Bauer: in dieser Stunde hat Frau
Holle wieder Umzug gehalten und hat die alte Erde
gesegnet mit Strunk und Staude, mit Strauch
und Baum für das kommende Jahr.




Karl Paetow, Die Taube mit dem goldenen Stühlchen. In: Frau Holle, Märchen und Sagen, S. 87 - 88




































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