Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Das Schicksalsstübchen



wei Knaben hatten sich im Eifer der Jugend bis in die Ruinen einer Ritterburg hinaufgespielt und suchten dort zwischen Brombeerranken und moosigen Trümmern ihr Versteck. Noch atemlos vom Aufstieg entdeckten sie eine eisenbeschlagene Pforte unter einer halbverschütteten Treppe, nahmen sich ein Herz und hängten sich an die schwere Klinke. Knarrend wich die Türe ihrem vereinten Druck, und indem sich ihnen das fette Netz einer Spinne über Gesicht und Haare klebte, traten sie beklommenen Mutes in den dämmrigen Raum. Hier fanden sie alles so überraschend niedlich und wohlgeordnet, von der dunklen Holzdecke bis zu den Truhen, steifen Stühlen und bunten Fensterscheiben, daß sie auch beim Anblick der Frau, die weißgekleidet am Spinnrad saß, das Graulen vergaßen.

Die Gestalt winkte sie freundlich heran, fragte nach ihren Eltern, wobei sie mitleidig kopfnickte, als sie vom frühen Tode des Vaters hörte. Denn die Knaben waren Söhne einer armen Witwe. Zutraulich erzählten sie von der häuslichen Armut und von dem fleißigen Tagwerk der Mutter, von Schule, Dorf und ihren kleinen Abenteuern, daß die Alte so recht ihre Freude hatte. So schenkte sie denn jedem zum Abschied eine Handvoll Flachsknotten, strich ihnen über die blonden Schöpfe und entließ sie mit freundlichem Gruß.

Es war spät geworden und die Mutter hatte schon sorgen voll in der Haustür gestanden, als endlich die Jungen, noch ganz erfüllt von dem Erlebnis im Stübchen, ihr schmeichelnd und kosend um den Hals fielen. Sie erzählten ihr das Unfaßbare und zeigten die schönen Samenknöpfe. Die Mutter ahnte gleich, welche Bewandtnis es mit diesen Gaben hatte, und verschloß dieses Geschenk der Frau Holle in ihrer Lade. Aber, o Wunder der Sage! Am kommenden Morgen waren die Knotten den gläubigen Herzen in lauter blanke Dukaten verwandelt. So arm sie auch war, dies Geld legte die treue Frau auf die hohe Kante, denn ihre Jungen sollten einmal was Rechtes  damit beginnen.

Solcherart hatten die Brüder ein gleiches Geschick. Aber sie waren doch allzu verschieden geartet. Der Ältere strebte einem ehrsamen Handwerk zu und lernte mit Fleiß die Geheimnisse seiner Kunst dem Meister ab. Der Jüngere machte sich lieber bequeme Tage. So kam die Zeit der Wanderschaft heran. Der Ältere ließ sein Vermögen zuhause in Mutters Kasten, tat sich fleißig um in der Welt, lernte noch manchen Kunstgriff dazu, war strebsam und sparsam und kehrte drei Jahre später geachtet als Meister zurück.

Der jüngere Bruder zog auch in die Welt, steckte das Hollengold in die Tasche, lebte auf großem Fuß und hatte es bald in lustiger Kumpanei vertan. Als er nun unbelehrt zurückkam, dachte er: "Gleich gehst du wieder ins Schicksalsstübchen und holst dir Nachschub", lief auf den Burgberg, suchte in allen Winkeln die verborgene Kammer, rief nach der Spinnerin und wollte und wollte nicht unbeschert weichen. Als er aber so gar nicht nachließ mit seinem Bettelgeschrei, knallte ihm - patsch! - eine Backpfeife in das Gesicht, daß ihm alle Sinne vergingen und er gleich den Abhang hinunter kullerte.

Zuhause erschien ein roter Fleck auf der geschlagenen Wange, der wollte vor keiner Seifenlauge vergehen und hat sich durch
ihn auch auf Kinder und Kindeskinder vererbt
als ein Zeichen der Torheit.




Karl Paetow, 'Frau Holle' - Märchen und Sagen S. 16 - 17

















































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