Im Reich der Frau Holle









Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Das Erdwürmchen



s war einmal ein kleines Mädchen. Das liebte alle Tiere des Waldes und vermochte nicht einmal einer Spinne gram zu sein. Sein liebstes Spielzeug waren die Blumen und Schmetterlinge, die Mücken und Käfer, Eidechsen und Frösche. Ja selbst den Regenwürmchen baute es Sommerhäuschen und streichelte sie ohne Schaudern über den Rücken. Wenn der Lenz die Blumen lockte und die Vögel aus allem Gezweig die maigrünen Triebe hervorzwitscherten, dann war seine liebste Zeit. Zur Morgenstunde nahm es sein Hirtentäschchen, trieb des Vaters Kühe auf die große Waldwiese, blieb auch bis zum Abend im Busch und spielte mit allem Getier und Gewürm. Von dieser Eigenschaft trug es den Übernamen Erdwürmchen in aller Nachbarn Munde.

Als das Kind eines Morgens in den blinken Tag hineinlief, die schwanken Kühe voraus, das wedelnde Hündchen hinterdrein, da vertrat ihm ein altes Mütterchen seinen Weg. Das war wohl ärmlich gekleidet, schnatterte vor Kälte mit zahnlosen Kiefern, fror und barmte, daß es dem Kinde ins Herze schnitt. In seiner Einfalt zog Erdwürmchen das wollene Jäckchen vom Leibe und hing es der guten Muhme um ihre dürftigen Schultern. Die nickte nur mit dem Kopf und raunte: "Was der Mensch tut, das hat er gut!" und humpelte wieder in den Busch.

Aber Erdwürmchen mußte nun über Tage im bloßen Hemdchen laufen und wurde obendrein am Abend von seiner Mutter ausgescholten. Denn die Eltern hatten auch nicht mehr als sie brauchten und konnten dem Kind keine neuen Kleider zumessen. So mußte es denn das verschossene Jäckchen vom Vorjahr noch einmal anziehen, und dabei platzte es schon aus allen Nähten.

Dann aber wurden die Tage so sonnenmild und sommerhell, daß Erdwürmchen, wenn es am Bach mit den Kieseln und Wasserspinnen gespielt hatte, ein Bad nehmen konnte. Wie floß da das kühle Wasser so wohlig und weich an seiner Haut vorbei, den Strömen und Seen des Tieflandes zu. Als das Kind nun aufsprang und sich abtropfen ließ und ganz. flink in die Kleider schlüpfen wollte, da konnte es das alte Zeug gar nicht wiederfinden. Dafür aber lagen da hinter dem Busch die schönsten und zierlichsten Sachen: feines Hemdchen, buntes Mieder und Röckchen, ein gesticktes Mützchen und oben­ drein ein Paar allerliebste Sommerschuhe. Und das überraschte sie am meisten, denn dazumal liefen die Bauernkinder noch sommertags alle Wege barfuß.

Nun probierte es Stück um Stück, erst das Hemdchen, dann das Röckchen mit dem Mieder, das lustige Mützchen, und schließlich sprang es in seinen zierlichen Schühchen über die Wiese, klatschte in die Hände und rief:

"O die viel schönen Kleider!
Wo ist der Schenker? Wo ist der Schneider?"

Da trat eine alte Frau aus den Büschen und sprach: "Was einer tut, das hat er gut. Erdwürmchen, kennst du mich gar nicht wieder?"
"Ach Gott", rief Erdwürmchen froh erschrocken: "du bist ja die Muhme mit dem zerrissenen Rock. Und heute schaust du so prächtig aus!" "Ja, ja, so ist der Lauf der Welt", lachte die Alte, "heute reich und morgen arm. Hast du einen Herzenswunsch, liebes Kind, vielleicht kann ich den auch noch erfüllen."

Was mag so ein einfältig Herzelein wohl schon wünschen? Alle Schätze dieser Erde kannte es nicht und hatte Glücks genug an den Gespielen .des Waldes. Aber da fiel ihm der große Käfer ein und es bat: "Wenn du es einrichten kannst, dann laß doch bitte den goldenen Käfer wieder kommen, der einmal mit mir gespielt hat und dann für immer verschwunden ist."

"Jaja", lächelte die Muhme geheimnisvoll: "Goldkäferchen hat immer so viel zu tun. Aber er soll es sich einrichten. Und nun leb wohl, Erdwürmchen." Damit humpelte sie dem Walde zu.

So stand nun die Kleine in ihrem Schmuck und horchte und hörte ein Brummen vom Walde und sah ihren goldenen Gesellen heranschwirren, lockte ihn herbei, und er landete zutraulich auf ihrer Hand. Er war aber schön und schwer und hatte so kluge Augen wie ihr Hündchen. Als sie ihn ansprach, nickte er mit den Fühlern und rieb sich die Vorderbeine wie in Gedanken, und es war, als verstünde er Wort für Wort ihre Wünsche. So spielte sie mit ihm von Blume zu Blume den ganzen Tag, und am anderen Morgen kam er zurück, und sie blieben beisammen in ihrer Freundschaf t. Er hatte auch Marienwürmchen in seinem Gefolge, die schwirrten hin und wider, wiegten sich in den warmen Winden, und Erdwürmchen sah ihnen lange nach, wenn sie hoch über die Eichenkronen entflohen. "Ach", rief es, "fliegen, fliegen, das wär mein größtes Vergnügen!"

"Kannst du auch, kannst du auch", knurrte  Goldkäfer, und, hui! kam ein Wägelchen durch die Lüfte heran, das war von Elfenbein zierlich geschnitzelt, und die Marienwürmchen zogen es her an seidenen Riemen.
Erdwürmchen

 "Willst du, so kannst du!" knurrte ihr Geselle. Da stieg sie ein, und sachte gings aufwärts über die Büsche und Bäume dahin durch die hohen Lüfte; waldauf, waldab flog der kleine Kahn, und Erdwürmchen war ganz betrunken vor Freude und lachte und patschte in die Hände. Dann sanken sie langsam erdenwärts, und schon lag das Kind wieder im Wiesengrund. Das war mal was Schönes!


                  ebd.,Illustration von Karl Paetow



So brachte nun jeder Tag seine Luftfahrt, und Goldkäferchen saß dann auf dem Bock, schnippte die Peitsche und kutschierte die Kleine ganz artig über die Bäume, daß sie den Vögeln in ihre Nester gucken konnte. Erdwürmchen aber wuchs heran und war nun im fünfzehnten Lebensjahr. Aber immer noch hütete es die Kühe und spielte mit allem Getier. Nur Goldkäferchen kam immer seltener auf die Wiese. Und wieder war so ein Maitag mit goldenen Sonnenkringeln und süßem Vogelsang. Aber Erdwürmchen wurde ganz traurig und wußte selbst nicht, warum. Ihm war, als müßte es Abschied nehmen von all seinen Lieben, und das Herz floß ihm über. Viel dunkle Geschichten und Abschiedslieder sangen dem Mädchen durch seinen Sinn, und es weinte in seine Schürze. Indem hörte die Jungfrau wieder das trauliche Brummen, und Goldkäferchen saß schon neben ihr, hatte sein Luftgefährt mitgebracht und knurrte ganz freundlich: "Steig ein, steig ein, willst du, so fährst du über den Rhein." Da überkam sie die alte Lust, und sie stieg ein; Goldkäferchen faßte die Zügel, schnippte die Peitsche und, hui! ging's hinauf in die blaue Luft; einmal um den Wald herum, dann aber weiter und weiter und wurde zu einer Sturmfahrt, und die Winde zerrten an Erdwürmchens Kleid, ihre Haare pfiffen im Luftzug und immerzu ging die wilde Flucht über Berg und Tal und Strom und Gebirge in sausender Fahrt. "Halt an, halt ein!" rief das Mädchen, "so kehr doch um!" Aber Goldkäferchen wirbelte seine Peitsche, und die Marienwürmchen schwirrten noch toller, daß es dem Mädchen den Atem vom Munde riß. Sie verlor ihre Sinne, und als sie erwachte, lag sie in einem einsamen Tal. Steile Felsen standen wie gerüstete Ritter herum, und alles war fremd. Da klagte die Jungfrau über ihre verlorene Heimat, über die Eltern und die Geschwister, von denen keines wußte, wo sie nun weilte. Aber im schwimmenden Blick ihrer Tränen gewahrte sie schließlich ein niedliches Häuschen. Langsam erhob sie sich, wischte sich das Wasser aus den Augen und ging traurig dahin. Ein Hündchen kam ihr fröhlich bellend entgegen, der Hahn auf der Miste krähte sein schönstes Lied, und die Gänse machten gagack. Vor der Haustüre aber saß eine alte Frau, spann und sang ein vergessenes Lied.

Als sie so näher kam, schlug die Alte einen Knoten in ihren Faden, blickte auf und rief: "Erdwürmchen, wo kommst denn du daher?" Da erkannte die Jungfrau die gute Alte und freute sich, daß sie bei Freunden war. "Ach Muhme", klagte sie noch unter Tränen, "Goldkäferchen, der falsche Wicht, hat mich hier abgesetzt, und nun bin ich ganz verloren und weiß nicht, wie ich heimfinden soll!"

"Sei bloß nicht traurig", sagte die Alte, "nun bist du bei mir geborgen", nahm ihre Hand und führte sie in das Haus. "Komm und iß und ruh dich von deiner Reise, denn du bist wohl an die hundert Meilen gefahren. Ich habe dich kommen lassen in dieses Tal, damit du dem schlimmen Schicksal entgehst. In deiner Heimat wütet der böse Feind, und die wilden Horden würden dir bitteres Leid antun. Bleib bei mir, sei fleißig und habe Geduld, so will ich dich zu deiner Zeit wohl wieder in die alte Heimat bringen."

So verblieb denn das Mädchen vor der Hand in dem Haus der Frau Holle und lernte die ganze Wirtschaf t. Des Morgens stand sie schon in der Herrgottsfrühe am Ofen. Wenn sie dann eifrig zum Brunnen lief, so fand sie jedesmal einen Silberpfennig im blank gescheuerten Eimer. Danach schürte sie noch das Feuer und schob die Suppe zur Flamme. Dann sagten die Leute im Tal: "Frau Holle kocht ihre Morgensuppe, seht nur, wie's am Berge raucht und schmaucht."

Später machte sie sich an den Backtrog, das tägliche Brot zu backen. Dann mußte sie gar gewaltig das Feuer schüren, daß die Flammen aus dem Backofen schlugen. Und wieder sagten die Bauern: „Frau Holle hat Backtag, der ganze Himmel flammt rot davon."

War aber Frau Holle über die Erde gefahren, um bei den Menschen nach dem Rechten und Schlechten zu sehen, dann kehrte sie immer ganz bestaubt zurück. Nach solchen Reisen mußte das Mädchen den Reise-Umhang im Goldbrunnen waschen. Und wenn es dann so recht auf Erden tropfte und platschte, so riefen die Alten: "Frau Holle hat Waschtag, heut regnet es nur ein einziges Mal." War dies geschehen, so hängte das Mädchen den Umhang zum Trocknen und Bleichen über den blühenden Rosenstrauch, der da immergrün in dem Garten blüht. Dann schloß Frau Holle den Wolkenhimmel wieder auf und ließ die liebe Sonne hervorgehen in all ihrem Glanz, weil ihr Umhang trocknen und bleichen sollte. Und die Eltern erzählten den Kindern: "Frau Holle trocknet heute ihr Kleid." Die Jüngsten aber sangen zu ihr hinauf:

"Liebe Frau, mach die Türe auf,
laß die liebe Sonne heraus,
laß den Regen drinnen,
laß den Schnee verbrennen.
Die Engel sitzen hinter dem Bronnen,
warten auf die liebe Sonnen."

Denn die Kleinen wissen wohl, daß Frau Holle sie am liebsten hat. Hütet sie doch auch die Ungeborenen in ihrem Born.

Wenn aber die Nächte langen, dann kommt der Herbst auch gegangen. Da lernte Erdwürmchen einen glatten Faden zu spinnen. Sie spann so klar wie ein Haar und wob die feinsten und zartesten Gespinste. Die nahm der Sonnenwind auf seinen Rücken und trug sie über die ganze Erde, damit sie im letzten Strahl noch einmal recht bleichen mochten. Dann sagten die erfahrenen Erdbewohner: "Nun ist Altweibersommer. Frau Holle spinnt ein glattes Garn in den Wind. So wird auch bald Winter sein." Und sie freuten sich noch einmal der letzten warmen Tage.

Und fürder, um die Weihnachtszeit, da mußte die Magd Frau Holles Betten aufschütteln. Und sie machte das mit so fröhlichem Fleiß, daß die Federn den ganzen Himmel entlangstoben. Unterweilen hockten die Menschenkinder im warmen Stübchen, drückten die Näschen platt an den Scheiben und riefen: "Es schneit, es schneit, Frau Holle schüttelt die Betten aus!"

Als unsere Jungfrau nun alle Künste gelernt hatte, wie sie eine rechtschaffene Hausfrau können muß, so waren fünf Jahre eben herum. An dem Jahrestag ihrer Entführung kam nun Frau Holle, nahm das Mädchen bei seiner Hand und sagte: "Nun ist die Zeit erfüllt. Der Krieg ist aus, deine Dienstzeit ist um, länger darf ich dich nun nicht bei mir festhalten. Packe deine sieben Sachen und mach dich bereit. Denn morgen schon wollen wir fahren."

Da ging Erdwürmchen in ihre Dachkammer und weinte bitterlich. Denn der Abschied von der Pflegemutter bedrückte ihr gutes Herz.

Am maigrünen Morgen fuhr ein blumenbemalter Kutschwagen vor, und Frau Holle brachte der Jungfrau das ganze Leinen, welches sie in den fünf Wintern gewirkt und gesponnen hatte; dazu gab sie ihr auch noch reiche Geschenke für ihre Eltern. Dann stieg sie zu ihr in den Wagen, und die Rosse schnoben wie Sturmflug über das Land. Die Fahrt ging aber so leicht, als berührten sie kaum die verbuckelten Straßen. Wiesen und Wälder, Dörfer und Menschen flogen vorüber, und am Abend hielten sie schon in dem Nachbardorf ihrer Heimat. Da umarmte Frau Holle die Magd, küßte sie und legte ihr noch einen vollen Beutel in ihren Schoß: „Davon kauf dir ein Gütchen, mein Liebes, und Friede sei unter deinem Dach!" Schon wandten sich ihre Rosse zu rascher Umkehr.

Erdwürmchen mietete einen Bauernwagen und fuhr in den Heimatabend hinein. Wie hämmerte da ihr Herz, als sie die vertrauten Wälder wiedersah. Aber wo war ihr Heimatdorf hingeschwunden? Sie kannte es nicht.

"Je nun", brummte der Bauer auf dem Bock und trieb die Gäule in Trab. "Das ist nun auch vom Kriege verheert. War kein Stein mehr beim andern. Hier und da steht schon mal wieder ein Haus. Wird aber noch lange währen, bis alles so ist, wie's mal gewesen."

Erdwürmchen wagte nicht weiter zu forschen. Ihr stockte der Atem, als sie an den traurigen Trümmern des Elternhauses vorüberfuhren. "Der Bauer hat's wieder geschafft", sagte da ihr Begleiter, "er wohnt jetzt dort neben dem neuen Viehstall." Und da erkannte sie auch schon die Mutter im Haustor, warf sich ihr an den Hals, und der Vater kam auch, und des Fragens und Freuens war nun kein Ende.

So war sie denn wieder daheim, teilte ihre Gaben aus, und alle waren von Herzen froh.

Da erkannte Erdwürmchen wohl, wovor Frau Holle sie
behütet hatte, dankte den guten Geistern ihre
Errettung und wurde zum Wohltäter
ihrer ganzen Familie.




Karl Paetow, Frau Holle im Born. In: Frau Holle: Märchen und Sagen,
S. 62 - 69



































nach oben

































nach oben












































nach oben

































nach oben




































nach oben































nach oben





































nach oben