s war einmal ein kleines
Mädchen. Das liebte alle Tiere des Waldes und vermochte nicht
einmal einer Spinne gram zu sein. Sein liebstes Spielzeug waren die
Blumen und Schmetterlinge, die Mücken und Käfer,
Eidechsen und Frösche. Ja selbst den Regenwürmchen
baute es Sommerhäuschen und streichelte sie ohne Schaudern
über den Rücken. Wenn der Lenz die Blumen lockte und
die Vögel aus allem Gezweig die maigrünen Triebe
hervorzwitscherten, dann war seine liebste Zeit. Zur Morgenstunde nahm
es sein Hirtentäschchen, trieb des Vaters Kühe auf
die große Waldwiese, blieb auch bis zum Abend im Busch und
spielte mit allem Getier und Gewürm. Von dieser Eigenschaft
trug es den Übernamen Erdwürmchen in aller Nachbarn
Munde.
Als das Kind eines Morgens in den blinken Tag hineinlief, die schwanken
Kühe voraus, das wedelnde Hündchen hinterdrein, da
vertrat ihm ein altes Mütterchen seinen Weg. Das war wohl
ärmlich gekleidet, schnatterte vor Kälte mit
zahnlosen Kiefern, fror und barmte, daß es dem Kinde ins
Herze schnitt. In seiner Einfalt zog Erdwürmchen das wollene
Jäckchen vom Leibe und hing es der guten Muhme um ihre
dürftigen Schultern. Die nickte nur mit dem Kopf und raunte:
"Was der Mensch tut, das hat er gut!" und humpelte wieder in den Busch.
Aber Erdwürmchen mußte nun über Tage im
bloßen Hemdchen laufen und wurde obendrein am Abend von
seiner Mutter ausgescholten. Denn die Eltern hatten auch nicht mehr als
sie brauchten und konnten dem Kind keine neuen Kleider zumessen. So
mußte es denn das verschossene Jäckchen vom Vorjahr
noch einmal anziehen, und dabei platzte es schon aus allen
Nähten.
Dann aber wurden die Tage so sonnenmild und sommerhell, daß
Erdwürmchen, wenn es am Bach mit den Kieseln und Wasserspinnen
gespielt hatte, ein Bad nehmen konnte. Wie floß da das
kühle Wasser so wohlig und weich an seiner Haut vorbei, den
Strömen und Seen des Tieflandes zu. Als das Kind nun aufsprang
und sich abtropfen ließ und ganz. flink in die Kleider
schlüpfen wollte, da konnte es das alte Zeug gar nicht
wiederfinden. Dafür aber lagen da hinter dem Busch die
schönsten und zierlichsten Sachen: feines Hemdchen, buntes
Mieder und Röckchen, ein gesticktes Mützchen und
oben drein ein Paar allerliebste Sommerschuhe. Und das
überraschte sie am meisten, denn dazumal liefen die
Bauernkinder noch sommertags alle Wege barfuß.
Nun probierte es Stück um Stück, erst das Hemdchen,
dann das Röckchen mit dem Mieder, das lustige
Mützchen, und schließlich sprang es in seinen
zierlichen Schühchen über die Wiese, klatschte in die
Hände und rief:
"O die viel
schönen Kleider!
Wo ist der Schenker? Wo ist der Schneider?"
Da trat eine alte Frau aus den Büschen und sprach: "Was einer
tut, das hat er gut. Erdwürmchen, kennst du mich gar nicht
wieder?"
"Ach Gott", rief Erdwürmchen froh erschrocken: "du bist ja die
Muhme mit dem zerrissenen Rock. Und heute schaust du so
prächtig aus!" "Ja, ja, so ist der Lauf der Welt", lachte die
Alte, "heute reich und morgen arm. Hast du einen Herzenswunsch, liebes
Kind, vielleicht kann ich den auch noch erfüllen."
Was mag so ein einfältig Herzelein wohl schon
wünschen? Alle Schätze dieser Erde kannte es nicht
und hatte Glücks genug an den Gespielen .des Waldes. Aber da
fiel ihm der große Käfer ein und es bat: "Wenn du es
einrichten kannst, dann laß doch bitte den goldenen
Käfer wieder kommen, der einmal mit mir gespielt hat und dann
für immer verschwunden ist."
"Jaja", lächelte die Muhme geheimnisvoll:
"Goldkäferchen hat immer so viel zu tun. Aber er soll es sich
einrichten. Und nun leb wohl, Erdwürmchen." Damit humpelte sie
dem Walde zu.
So stand nun die Kleine in ihrem Schmuck und horchte und hörte
ein Brummen vom Walde und sah ihren goldenen Gesellen heranschwirren,
lockte ihn herbei, und er landete zutraulich auf ihrer Hand. Er war
aber schön und schwer und hatte so kluge Augen wie ihr
Hündchen. Als sie ihn ansprach, nickte er mit den
Fühlern und rieb sich die Vorderbeine wie in Gedanken, und es
war, als verstünde er Wort für Wort ihre
Wünsche. So spielte sie mit ihm von Blume zu Blume den ganzen
Tag, und am anderen Morgen kam er zurück, und sie blieben
beisammen in ihrer Freundschaf t. Er hatte auch Marienwürmchen
in seinem Gefolge, die schwirrten hin und wider, wiegten sich in den
warmen Winden, und Erdwürmchen sah ihnen lange nach, wenn sie
hoch über die Eichenkronen entflohen. "Ach", rief es,
"fliegen, fliegen, das wär mein größtes
Vergnügen!"
"Kannst du
auch, kannst du auch", knurrte Goldkäfer,
und, hui! kam ein Wägelchen durch die Lüfte heran,
das war von Elfenbein zierlich geschnitzelt, und die
Marienwürmchen zogen es her an seidenen Riemen.
"Willst du, so
kannst du!" knurrte ihr Geselle. Da stieg sie ein, und sachte gings
aufwärts über die Büsche und Bäume
dahin durch die hohen Lüfte; waldauf, waldab flog der kleine
Kahn, und Erdwürmchen war ganz betrunken vor Freude und lachte
und patschte in die Hände. Dann sanken sie langsam
erdenwärts, und schon lag das Kind wieder im Wiesengrund. Das
war mal was Schönes!
ebd.,Illustration von Karl Paetow
So brachte nun jeder Tag seine Luftfahrt, und Goldkäferchen
saß dann auf dem Bock, schnippte die Peitsche und kutschierte
die Kleine ganz artig über die Bäume, daß
sie den Vögeln in ihre Nester gucken konnte.
Erdwürmchen aber wuchs heran und war nun im
fünfzehnten Lebensjahr. Aber immer noch hütete es die
Kühe und spielte mit allem Getier. Nur Goldkäferchen
kam immer seltener auf die Wiese. Und wieder war so ein Maitag mit
goldenen Sonnenkringeln und süßem Vogelsang. Aber
Erdwürmchen wurde ganz traurig und wußte selbst
nicht, warum. Ihm war, als müßte es Abschied nehmen
von all seinen Lieben, und das Herz floß ihm über.
Viel dunkle Geschichten und Abschiedslieder sangen dem Mädchen
durch seinen Sinn, und es weinte in seine Schürze. Indem
hörte die Jungfrau wieder das trauliche Brummen, und
Goldkäferchen saß schon neben ihr, hatte sein
Luftgefährt mitgebracht und knurrte ganz freundlich: "Steig
ein, steig ein, willst du, so fährst du über den
Rhein." Da überkam sie die alte Lust, und sie stieg ein;
Goldkäferchen faßte die Zügel, schnippte
die Peitsche und, hui! ging's hinauf in die blaue Luft; einmal um den
Wald herum, dann aber weiter und weiter und wurde zu einer Sturmfahrt,
und die Winde zerrten an Erdwürmchens Kleid, ihre Haare
pfiffen im Luftzug und immerzu ging die wilde Flucht über Berg
und Tal und Strom und Gebirge in sausender Fahrt. "Halt an, halt ein!"
rief das Mädchen, "so kehr doch um!" Aber
Goldkäferchen wirbelte seine Peitsche, und die
Marienwürmchen schwirrten noch toller, daß es dem
Mädchen den Atem vom Munde riß. Sie verlor ihre
Sinne, und als sie erwachte, lag sie in einem einsamen Tal. Steile
Felsen standen wie gerüstete Ritter herum, und alles war
fremd. Da klagte die Jungfrau über ihre verlorene Heimat,
über die Eltern und die Geschwister, von denen keines
wußte, wo sie nun weilte. Aber im schwimmenden Blick ihrer
Tränen gewahrte sie schließlich ein niedliches
Häuschen. Langsam erhob sie sich, wischte sich das Wasser aus
den Augen und ging traurig dahin. Ein Hündchen kam ihr
fröhlich bellend entgegen, der Hahn auf der Miste
krähte sein schönstes Lied, und die Gänse
machten gagack. Vor der Haustüre aber saß eine alte
Frau, spann und sang ein vergessenes Lied.
Als sie so näher kam, schlug die Alte einen Knoten in ihren
Faden, blickte auf und rief: "Erdwürmchen, wo kommst denn du
daher?" Da erkannte die Jungfrau die gute Alte und freute sich,
daß sie bei Freunden war. "Ach Muhme", klagte sie noch unter
Tränen, "Goldkäferchen, der falsche Wicht, hat mich
hier abgesetzt, und nun bin ich ganz verloren und weiß nicht,
wie ich heimfinden soll!"
"Sei bloß nicht traurig", sagte die Alte, "nun bist du bei
mir geborgen", nahm ihre Hand und führte sie in das Haus.
"Komm und iß und ruh dich von deiner Reise, denn du bist wohl
an die hundert Meilen gefahren. Ich habe dich kommen lassen in dieses
Tal, damit du dem schlimmen Schicksal entgehst. In deiner Heimat
wütet der böse Feind, und die wilden Horden
würden dir bitteres Leid antun. Bleib bei mir, sei
fleißig und habe Geduld, so will ich dich zu deiner Zeit wohl
wieder in die alte Heimat bringen."
So verblieb denn das Mädchen vor der Hand in dem Haus der Frau
Holle und lernte die ganze Wirtschaf t. Des Morgens stand sie schon in
der Herrgottsfrühe am Ofen. Wenn sie dann eifrig zum Brunnen
lief, so fand sie jedesmal einen Silberpfennig im blank gescheuerten
Eimer. Danach schürte sie noch das Feuer und schob die Suppe
zur Flamme. Dann sagten die Leute im Tal: "Frau Holle kocht ihre
Morgensuppe, seht nur, wie's am Berge raucht und schmaucht."
Später machte sie sich an den Backtrog, das tägliche
Brot zu backen. Dann mußte sie gar gewaltig das Feuer
schüren, daß die Flammen aus dem Backofen schlugen.
Und wieder sagten die Bauern: „Frau Holle hat Backtag, der
ganze Himmel flammt rot davon."
War aber Frau Holle über die Erde gefahren, um bei den
Menschen nach dem Rechten und Schlechten zu sehen, dann kehrte sie
immer ganz bestaubt zurück. Nach solchen Reisen
mußte das Mädchen den Reise-Umhang im Goldbrunnen
waschen. Und wenn es dann so recht auf Erden tropfte und platschte, so
riefen die Alten: "Frau Holle hat Waschtag, heut regnet es nur ein
einziges Mal." War dies geschehen, so hängte das
Mädchen den Umhang zum Trocknen und Bleichen über den
blühenden Rosenstrauch, der da immergrün in dem
Garten blüht. Dann schloß Frau Holle den
Wolkenhimmel wieder auf und ließ die liebe Sonne hervorgehen
in all ihrem Glanz, weil ihr Umhang trocknen und bleichen sollte. Und
die Eltern erzählten den Kindern: "Frau Holle trocknet heute
ihr Kleid." Die Jüngsten aber sangen zu ihr hinauf:
"Liebe Frau,
mach die Türe auf,
laß die liebe Sonne heraus,
laß den Regen drinnen,
laß den Schnee verbrennen.
Die Engel sitzen hinter dem Bronnen,
warten auf die liebe Sonnen."
Denn die Kleinen wissen wohl, daß Frau Holle sie am liebsten
hat. Hütet sie doch auch die Ungeborenen in ihrem Born.
Wenn aber die Nächte langen, dann kommt der Herbst auch
gegangen. Da lernte Erdwürmchen einen glatten Faden zu
spinnen. Sie spann so klar wie ein Haar und wob die feinsten und
zartesten Gespinste. Die nahm der Sonnenwind auf seinen Rücken
und trug sie über die ganze Erde, damit sie im letzten Strahl
noch einmal recht bleichen mochten. Dann sagten die erfahrenen
Erdbewohner: "Nun ist Altweibersommer. Frau Holle spinnt ein glattes
Garn in den Wind. So wird auch bald Winter sein." Und sie freuten sich
noch einmal der letzten warmen Tage.
Und fürder, um die Weihnachtszeit, da mußte die Magd
Frau Holles Betten aufschütteln. Und sie machte das mit so
fröhlichem Fleiß, daß die Federn den
ganzen Himmel entlangstoben. Unterweilen hockten die Menschenkinder im
warmen Stübchen, drückten die Näschen platt
an den Scheiben und riefen: "Es schneit, es schneit, Frau Holle
schüttelt die Betten aus!"
Als unsere Jungfrau nun alle Künste gelernt hatte, wie sie
eine rechtschaffene Hausfrau können muß, so waren
fünf Jahre eben herum. An dem Jahrestag ihrer
Entführung kam nun Frau Holle, nahm das Mädchen bei
seiner Hand und sagte: "Nun ist die Zeit erfüllt. Der Krieg
ist aus, deine Dienstzeit ist um, länger darf ich dich nun
nicht bei mir festhalten. Packe deine sieben Sachen und mach dich
bereit. Denn morgen schon wollen wir fahren."
Da ging Erdwürmchen in ihre Dachkammer und weinte bitterlich.
Denn der Abschied von der Pflegemutter bedrückte ihr gutes
Herz.
Am maigrünen Morgen fuhr ein blumenbemalter Kutschwagen vor,
und Frau Holle brachte der Jungfrau das ganze Leinen, welches sie in
den fünf Wintern gewirkt und gesponnen hatte; dazu gab sie ihr
auch noch reiche Geschenke für ihre Eltern. Dann stieg sie zu
ihr in den Wagen, und die Rosse schnoben wie Sturmflug über
das Land. Die Fahrt ging aber so leicht, als berührten sie
kaum die verbuckelten Straßen. Wiesen und Wälder,
Dörfer und Menschen flogen vorüber, und am Abend
hielten sie schon in dem Nachbardorf ihrer Heimat. Da umarmte Frau
Holle die Magd, küßte sie und legte ihr noch einen
vollen Beutel in ihren Schoß: „Davon kauf dir ein
Gütchen, mein Liebes, und Friede sei unter deinem Dach!" Schon
wandten sich ihre Rosse zu rascher Umkehr.
Erdwürmchen mietete einen Bauernwagen und fuhr in den
Heimatabend hinein. Wie hämmerte da ihr Herz, als sie die
vertrauten Wälder wiedersah. Aber wo war ihr Heimatdorf
hingeschwunden? Sie kannte es nicht.
"Je nun", brummte der Bauer auf dem Bock und trieb die Gäule
in Trab. "Das ist nun auch vom Kriege verheert. War kein Stein mehr
beim andern. Hier und da steht schon mal wieder ein Haus. Wird aber
noch lange währen, bis alles so ist, wie's mal gewesen."
Erdwürmchen wagte nicht weiter zu forschen. Ihr stockte der
Atem, als sie an den traurigen Trümmern des Elternhauses
vorüberfuhren. "Der Bauer hat's wieder geschafft", sagte da
ihr Begleiter, "er wohnt jetzt dort neben dem neuen Viehstall." Und da
erkannte sie auch schon die Mutter im Haustor, warf sich ihr an den
Hals, und der Vater kam auch, und des Fragens und Freuens war nun kein
Ende.
So war sie denn wieder daheim, teilte ihre Gaben aus, und alle waren
von Herzen froh.
Da erkannte
Erdwürmchen wohl, wovor Frau
Holle sie
behütet hatte, dankte den guten Geistern ihre
Errettung und wurde zum Wohltäter
ihrer ganzen Familie.
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Karl Paetow, Frau Holle im Born.
In: Frau Holle: Märchen und Sagen,
S. 62 - 69
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