Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Die blaue Blume



or Zeiten lebte ein Hirt in dem gewaltigen Bergland, das heute Tirol heißt. Der war der geschickteste Jäger weit in den Tälern. So hielt er Bären und Wölfe von seiner Herde fern und schoß auch manch edles Wild. Einmal stand er auf hoher Alm unter den friedlich äsenden Lämmern, und seine Blicke glitten weit über die Felsen. Da erblickte er einen Gemsbock mit goldenem Horn schußnah auf den Steinen. Schnell war der Bogen gespannt und angelegt. Aber der Pfeil ritzte dem flüchtigen Tier nur die Lende und schwirrte ins Tal. Der Hirt sprang ihm nach. Der Bock stutzte und wartete, floh wieder aus dem Schuß, und so ging das Spiel der Verfolgung von Zacke zu Zacke bis dicht an den Gletscher. Da öffnete sich ein gläsernes Tor, und der Bock tauchte ein in die kühle Nacht. Wie nun der hitzige Hirt an das Tor kam, gewahrte er in der Tiefe fern einen Schein und folgte dem lockenden Licht. So gelangte er denn in eine mächtige Halle. Wände und Wölbungen blinkten vom edlen Kristall, und aus den Pfeilern sprühte ein lockendes Licht wie von tausend Granatsteinen. Hinter glasklaren Wänden erkannte der Jäger blumige Matten und grünende Gründe. Inmitten dieser Rotunde aber stand ein erhabenes Frauenbild. Der goldene Gürtel umschloß ihr wallendes Silberkleid, und auf dem blonden Haarschopf blinkte die Krone karfunkelhell. Ihre Hand umschloß einen Strauß von zierlichen Blüten, so blau und so schön wie ihre Augen. Es weilten da auch die saligen Fräulein, die scharten sich mit Alpenrosen im braunen Gelock um die strahlende Elbin. Der Hirt aber sah nur auf jene königliche Gestalt. Da sprach die Erscheinung: "Dies ist das Jahr der Erfüllung. Da warten Silber und Gold, edle Gesteine und schöne Mädchen. Eins davon steht dir zu. Nun wäge und wähle wohl, doch vergiß das Beste nicht!"

Der Hirt blickte rund und fehlte wenig, so wäre da die Macht seiner Sinne vergangen. Das Beste zu finden im Glanz dieser Dinge, erschien ihm unmöglich. Da gewann sein Auge die Ruhe zurück im Blick auf die Blüten. Er bat: "Gib die!"
"Du hast das Beste erwählt", sagte die Weiße Frau, "nimm hin die Blumen und nimm auch die Samen, damit du sie fürder anbauen kannst."

Ein Donnerton riß dem Hirten den Dank vom Mund, und er sank in Schlaf. Zwischen Eisgebilden und Felsen am Gießbach fand er sich wieder. Aber das gläserne Tor war verschüttet, und nur die Wunderblume auf seinen Knien und ein silberner Scheffel mit Samenkörnern bezeugten die Wahrhaftigkeit jener Erscheinung.

Sein erster Gedanke galt nun seiner Herde. Aber die mußte sich weithin verstiegen haben, denn er vermochte nicht einen Lämmerschwanz zu erblicken. Als er am Abend die eigene Hütte betrat, da fand er sein Weib und die Kinder in Kummer und Elend. Denn nun erst wurde ihm offenbar, daß er ein volles Jahr im Berge verborgen gewesen, und hatte es nicht gewußt. Dieweilen hatten die wilden Tiere sein Vieh zerrissen. Schwer war es da, die Tränen der Seinen hinweg zu trösten. Er aber vertraute auf das Geschenk und machte sich gleich an die Arbeit. Mit Feuer und Steinbeil rodete er ein Gehölz, mit Hacke und Spaten bestellte er dann den Acker, den Samen der Blume ins lockere Erdreich zu senken. Wohl schalt ihn die Frau einen Narren, und er sollte sich lieber um Nahrung und Notdurft bemühen. Er aber hat nicht nachgelassen und immer neue Furchen gegraben und hat noch ein zweites und drittes Feld eingesät. Mit dem Mairegen schossen die grünen Stengelein auf, und bald wogten die Äcker in blauen Blüten. Wenn dann der Hirt bei Vollmondschein von der Pirsch kam, so sah er wohl, wie die Herrin der Berge segnend die Hände über die blauen Gefilde gebreitet hatte. Da ging die Blüte bald in Frucht. Als nun der Sommer verrinnen wollte, lehrte die Weiße Frau den Bauern die Kunst der Flachsbereitung. Sie gab ihm den Spruch:

"Gerauft, getauft,
geröstet, geriffelt, gedörrt,
gebrochen, geschwungen,
gehechelt, gesponnen,
gewoben, geblichen,
geschneidert, getragen,
verschlissen."

So hat denn der Mann im Winter mit tanzender Spindel den ersten Faden gedreht. So wob er aus Kette und Schuß das erste Geflecht einer grauen Leinwand. Und als die Frühlingssonne über die grüne Bleiche strich, bleichte das Tuch am Wiesenbach so weiß wie Schnee. Daraus wurde das erste Hemd zugeschnitten und später das erste Kleid genäht. So wuchs aus der unscheinbaren Blume ein großer Segen für alle Menschen. Denn bald erkannten alle die Wohltat und Schönheit des leichten Gewandes, legten über Sommertag die plumpen Pelze und groben Wolljacken ab, dankten dem Hirten und priesen seine Erfindung.

Der glückliche Weber hat Kinder und Kindeskinder erlebt. Und noch immer blühte Frau Berchtas blaues Sträußchen im grauen Steinkrug. Aber in der Frühlingsfrühe eines Morgens fand der greise Meister die Blüten mit abgewelkten und fahlen Köpfchen. Da wußte der Hochbetagte wohl, daß auch sein Lebenslicht niedergebrannt war. Stillen Mutes hat er sein Feiergewand angelegt und ist in die Einöde gestiegen, talauf, wo er vor Zeiten in glücklicher Fügung den Sinn seines Schicksals gefunden hatte. Im Gletscher war das verschüttete Tor wieder aufgetan, und es war ein feierlicher Abend rings umher, daß die Flächen von Eis und die Zinnen der Berge feuergold glühten. 

Im Osten stieg eben der Mond hoch, und aus der Höhle rief ihn das alte Licht. Da ist er gelassen eingetreten. Hinter ihm hat
der Berg sich donnernd geschlossen, und kein
Sterblicher hat seither den Alten jemals von
Angesicht wiedergesehen.




Karl Paetow, Die blaue Blume. In: Frau Holle: Märchen und Sagen,
 S. 50 -53

















































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