Der Frauenschuh
Der
Frauenschuh, eine
besonders schöne heimische Orchidee, wächst auch
heute noch
an verschwiegenen Plätzen in unseren Wäldern. Er ist
im
Spessart bekannt als Frauschunkelblume,
die der Frau Schunkel heilig ist. Unter diesem Namen ist Frau Holle im
Spessart bekannt.
Der Gelbe
Frauenschuh
Frauschunkelblume
m
dunkelgrünen Spessart, den der silberne Wasserlauf des
rebenbekränzten Maines umströmt, ist Frau Holle unter
dem Namen Frau Schunkel bekannt. Hier kennt man sie als
mächtige, aber gütige Zauberin. Im Winter wohnt sie
mit ihren Kindern in den Grotten und Höhlen der
Hügelwälder, wo sie in ihren Schatzkammern das Silber
und Gold der Erde bewacht. Dort hält sie auch ihre
Zauberbücher verborgen, in denen die Erdgeheimnisse aller
Naturreiche niedergeschrieben sind. Kein Unberufener findet den Eingang
zu ihren unterirdischen Schätzen. Nur der Glückliche,
der das Schloß Nama und den Schlüssel Tata findet
und damit aufschließt, zu dem kommen ihre Kinder als
dienstbare Geister und
führen ihn ihrer Mutter zu, welche ihn reich
beschenkt. Im Frühling aber, so Ende März, dann
verläßt Frau Schunkel ihr dunkles Erdreich gleich
den Blumen und Blättern, den Käfern und
Schmetterlingen. Dann sieht man sie als lichte Elbin über
blühende Gründe und grüne Haine entschweben
in segnendem Flug.
Unter den lichten Kindern des Waldes ist dann die Frauschunkelblume,
der lichte und seltene Frauenschuh, ihr liebstes Gewächs. Es
waltet aber über dieser Blume ein strenges Gesetz, und nur im
Mai darf der Wanderer dieses Sinnbild der Reinheit und Unschuld
pflücken.
Einmal, so wird erzählt, kam ein Mann aus fremder Ferne daher.
Der hatte wohl gehört von diesem strengen Gebot. Es war aber
eben der Mai vergangen. Da sah er im grünen Teppich des Waldes
die Wunderblume hold und verlockend auf schwankendem Stengel schweben.
Ihm war, als bräche ein Lichtschein aus ihrer Blüte
und leuchtete weit wie ein Edelstein unter den dunklen
Stämmen. "Was mag schon dabei sein," sagte er bei sich, "den
Elfenschuh steck ich mir doch noch auf meinen Hut!" Kaum aber hatte er
den zarten Hals der Blüte gebrochen, so verfinsterte sich der
ganze Forst, und Frau Schunkel kam angefahren mit ihren Geistern. Ihre
Stimme grollte: "Wer meine Blume zur Unzeit bricht, steht im
Waldgericht!" Da packten ihre kleinen Geister den Frevler mit festen
Fäusten, zerkratzten ihm das Gesicht und zerzausten ihm seinen
Schopf, daß er schleunigst entfloh.
So wacht hier Frau Schunkel über Wald und Flur bis in den
Herbst. In der Adventszeit kehrt sie dann heim in ihr unterirdisches
Zauberreich, wie die Blumen und Blätter sich wieder der Erde
gesellen, und die Tiere den Winterschlaf suchen im Schoß der
Erde.
Hier
pflanzte sie dann in der unterirdischen Ruhe
jeder Blume den
Traum vom
Frühlingshimmel ins Herz
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Karl Paetow,
Frauschunkelblume. In: Frau
Holle: Märchen und Sage,
S. 18 und 19
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