Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Die Mai-Feiern und der goldene Sonntag



Vom Vorabend des 1. Mai bis zur Sommersonnenwende feierte die Göttin ihre alljährliche Hoch-Zeit, in der frühen Geschichte der matriarchalen Gesellschaften mit den Elementen, vor allem mit dem Wind, später mit ihrem Heros, ihrem männlichen Partner, der sie als Sohn und Geliebter, später als Junker Tod durch ihr magisches Jahr begleitete.

"In der Nacht vor dem ersten Maitag verließ Frau Holle ihren immergrünen Garten und stieg aus der Tiefe der Anderswelt durch ihren Teich auf den Weißner hinauf ... Es ging diesmal zur Südseite der Hochfläche, dorthin, wo Frau Holles Thron steht, ein Sessel aus blauem Basalt, sanft gehöhlt und mit hoher Lehne ... Frau Holda (so nannte sich die Göttin in dieser Jahreszeit) zog einen goldenen Kamm aus ihrem Gürtel und begann ihre Haare zu strählen ... Frau Holda sang und fing in ihren Haaren die Himmelsbläue ein ... dann kämmte sie ihre Haare der Erde zu, daß sie wogten und wallten wie die Ähren auf den Feldern, wenn der Wind hindurchstreicht, und der Himmel kam in Gestalt des Windes herab und wand sich liebevoll um die schönen Glieder der Göttin ... Niemand kann sagen, wie lange die Vermählung zwischen Himmel und Erde dauert ...

Es war schon der erste Sonntag nach Pfingsten, den die Menschen den Goldenen Sonntag nannten, als vom nördlichen Ende des Plateaus auf dem Weißner, von seiner höchsten Kuppe lautes Lachen und Musizieren erklang. Dort lag der Festplatz für das Volk auf Frau Holles heiligem Berg. Eine große Schar junger Leute war an diesem Tag aus allen Dörfern der Umgebung auf den Weißner gepilgert, junge Frauen und Männer in ihrer besten Tracht ... Sie lachten und sangen, schwenkten sich im Reigen, um mit ihrem Tanz Frau Holdas Hochzeit zu ehren. Werbende Blicke warfen die jungen Frauen, von einladendem Lächeln begleitet. Die erwählten Burschen brachten kleine Geschenke, wenn sie einverstanden waren. So wurden die Bande geknüpft, die für dieses Jahr dauern würden, bis zum nächsten Holda-Fest auf dem Weißner."

Heide Göttner-Abendroth, Frau Holle und das Feenvolk der Dolomiten, S. 27-29



Tanz in den MaiDiese Feiern der Hoch-Zeit der Holda zeichneten sich u.a. dadurch aus, dass die jungen Frauen ihren Liebespartner wissen ließen, dass er 'gemeint' war, so wie es auch heute noch bei dem weitgehend matriarchal lebenden Volk der Mosuo in Südwestchina geschieht.

Von diesen Feiern des Lebens und der Liebe sind nur noch einige Reminiszenzen geblieben wie möglicherweise die 'Salat-Kirmes' in Germerode, der 'Tanz in de Mai' und das Aufstellen des Maibaums (Kranz und Stange als Symbole der sexuellen Vereinigung) sowie mancherorts auch die Sommersonn- wendfeiern mit Tanz um das Feuer.